„Wer heute die Lieferkette kontrolliert, gestaltet morgen die Welt“, schreibt Roman Stiftner. (Foto: Verkehr / Christian Mikes)
Logistik war lange die stille Kraft im Maschinenraum der Globalisierung – heute ist sie Europas strategische Königs-
disziplin. Auf dem geopolitischen Schachbrett von USA, China und EU entscheidet sich die Zukunft nicht allein durch Panzer oder Paragrafen, sondern durch Paletten, Plattformen und Präzision.
Die Wurzeln der Logistik liegen tief in der Geschichte – in römischen Legionen, in Napoleons Feldzügen, in der preußischen Eisenbahn. Schon immer galt: Ohne Nachschub kein Sieg, weder militärisch noch wirtschaftlich. Doch während einst Marschverpflegung zählte, sind es heute Halbleiter, seltene Erden, grüne Energie und Datenströme. Logistik ist zum Blutkreislauf unserer Wirtschaft geworden – und zum Seismografen globaler Umbrüche. Logistik ist von der Verwaltungseinheit zur geopolitischen Währung aufgestiegen. Und Europa muss lernen, sie als solche zu spielen.
Unsichtbare Infrastruktur des Wohlstands
In den letzten fünf Jahrzehnten hat sich die Logistik leise, aber tiefgreifend transformiert. Der Container standardisierte in den 1960er-Jahren den Welthandel, die Just-in-Time-Produktion (JIT) verwandelte Lieferketten in Präzisionsmaschinen. Die moderne Logistik beginnt jedoch nicht mit Algorithmen, sondern mit einem Pieps. Genauer gesagt: mit der neuen Fähigkeit in den 1980er-Jahren, einen Barcode an der Supermarktkasse zu scannen. Damit wurde sichtbar, was zuvor im Dunkel der Lagerhallen ruhte: Umsätze, Bestände und Nachschub. Seither wurde aus Bewegung Berechnung, aus Bauchgefühl Big Data. Aus Speditionsarbeit wurde Systemwissenschaft. Heute sorgen IoT, KI und digitale Zwillinge dafür, dass Warenströme intelligent mitdenken.
Diese Entwicklung hat nicht nur Lieferzeiten verkürzt und Kosten gesenkt – sie hat Märkte geöffnet, Wohlstand verteilt und die Weltwirtschaft vernetzt. Dass trotz steigender Weltbevölkerung die extreme Armut global zurückgegangen ist, ist auch ein Verdienst effizienter Versorgung. Logistik bedeutet Teilhabe.
Vom „stillen Diener“ zur Schlüsseldisziplin
Napoleon bemerkte einst: „Der Amateur beschäftigt sich mit Taktik, der Profi mit dem Nachschub.“ Heute würde man ergänzen: Der Stratege mit der Lieferkette. Lange war die Logistik die stille Dienerin des Fortschritts. Doch nun, in Zeiten brüchiger Handelsabkommen, Zolldynamiken und einer Welthandelsorganisation, die eher an eine müde Schiedsrichtertruppe als an eine regelsetzende Instanz erinnert, wird klar: Wer die Lieferkette kontrolliert, kontrolliert die Zukunft.
Europa zwischen Dame und Bauer
Die USA haben das erkannt, setzen gezielt Zölle und Exportkontrollen als Druckmittel ein und stärken ihre maritime Infrastruktur. China baut mit der Neuen Seidenstraße an seiner logistischen Weltmacht. Und Europa? Europa verliert sich in Regulierungsfragen und Investitionsvorbehalten. Während Europa noch über CO₂-Grenzwerte debattiert, sichern sich andere längst die Kontrolle über globale Wertschöpfungsketten. Die Logistik gleicht heute einem riesigen, globalen Schachspiel, bei dem zwei Spieler dominieren: die USA und China. Europa steht am Rand wie ein Schiedsrichter, der auf Fairness achtet. Manchmal wird Europa sogar in die Rolle des Bauern gedrängt. Dabei kann auch ein Bauer zur Dame werden – wenn er mutig voranzieht.
Drei Züge für Europas Comeback
Europa braucht keine neuen Manifeste – sondern mutige Züge auf dem Spielfeld der Realität. Als ersten Zug braucht es eine Investitionsoffensive in die kritische Infrastruktur. Wer Container um die Welt schicken will, braucht mehr als gute Absichten. Europa braucht moderne, multimodale Verkehrsachsen – nicht nur bessere Schienen, Straßen und Wasserwege, sondern smarte Hubs und ein digitales Nervensystem, das Datenströme so intelligent steuert wie Warenströme. Ebenso gehört das Energienetz modernisiert, damit Strom dorthin fließen kann, wo Wertschöpfung entsteht und die Versorgungssicherheit stets gewährleistet ist.
Als zweiten Zug braucht es Resilienz durch Eigenständigkeit. Autonome Lieferketten sind kein Luxus – sie sind Versicherung gegen politische Kurzschlüsse. Europa muss strategische Rohstoffe sichern, Recycling und Kreislaufwirtschaft hochskalieren, eigene Produktionskapazitäten ausbauen und neue, faire Handelsallianzen schließen. Europa benötigt rasch wettbewerbsfähige Energiepreise – denn Industriepolitik ohne Energiewirtschaft ist wie Schach ohne Springer: Es fehlt das bewegliche Element.
Als dritten Zug braucht es echte Technologieoffenheit statt Tugendterror. Nachhaltigkeit muss mehr sein als moralisches Feigenblatt. Sie beginnt nicht mit Verboten, sondern mit Fortschritt. Europa sollte in künstliche Intelligenz (KI), emissionsfreie Antriebe, synthetische Kraftstoffe und automatisierte Prozesse investieren – nicht in Symbolpolitik. Und vor allem: in Menschen. Gesucht sind Datenarchitekten, Resilienzstrategen, Lieferketten- und KI-Ethiker. Die Talente dafür sind da – wir müssen sie nur ausbilden, halten und entfalten.
Der nächste Zug gehört uns
Wie schon gesagt: Wer heute die Lieferkette kontrolliert, gestaltet morgen die Welt. Europa muss die Logistik als das erkennen, was sie längst ist: strategisches Asset, ökonomischer Verstärker und geopolitisches Werkzeug. Nicht mehr nur Mittel zum Zweck – sondern Zweck mit Mitteln. Wir stehen nicht vor einer Wand, sondern an einer Weggabelung. Und die gute Nachricht ist: Die Spielregeln sind bekannt. Die Figuren stehen bereit. Denn Logistik ist nicht nur die Kunst der Bewegung – sie ist Europas Stärke. Und sie ist bereit, zur Königsdisziplin am globalen Schachbrett zu werden. Haben wir den Mut dazu!
Roman Stiftner ist Präsident der Bundesvereinigung Logistik Österreich (BVL) und Präsident des European Shippers’ Council (ESC).