„Die Arktisstrategien der EU hatten bis vor Kurzem primär den Klimawandel im Fokus“, schreibt Breinbauer. (Foto: AdobeStock / NicoElNino)
Die Klimaerwärmung hat das Interesse an der Arktis beflügelt. Diese erhitzt sich drei- bis viermal schneller als der Rest der Welt; Hochrechnungen gehen davon aus, dass die Nordpolregion bereits im Jahr 2050 in den Sommermonaten weitgehend eisfrei sein könnte. Dies führt zu einem leichteren Zugang zu den immensen Bodenschätzen, die unter der Arktis lagern, wie Öl, Gas (30 Prozent der weltweiten Vorkommen), Seltene Erden, Gold etc. Außerdem wird das arktische Meer über die Nördliche Seeroute (Europäisches Nordmeer, Barents-, Kara-, Laptew-, Ostsibirische und Tschuktschensee bis zur Beringstraße) in den Sommermonaten schiffbar. Für China ist das eine um mehrere tausend Kilometer kürzere alternative Versorgungsroute zur Straße von Malakka, die noch immer von der US Navy kontrolliert wird.
Bereits jetzt können Open-Water-Schiffe und Schiffe der Polar Class 6 an immer mehr Tagen das Polarmeer durchqueren. Allerdings bringt die Klimaerwärmung auch Faktoren mit sich, die ein Navigieren in der Arktis erschweren können, wie zunehmend auftretender Nebel, unberechenbare Stürme und vermehrt vagabundierende Eisberge beziehungsweise Eisschollen. Außerdem ist die Navigation auch dadurch eingeschränkt, dass die Satellitendichte zum Pol hin abnimmt und der magnetische Kompass in höheren Breiten unzuverlässiger wird. Trotzdem hat sich der Warenverkehr in den letzten Jahren vervielfacht: 2019 wurden bereits 31,5 Millionen Tonnen transportiert, davon 60 Prozent russisches Flüssiggas; in diesem Jahr sollen es nach Angaben der Northern Sea Route Administration bereits 80 Millionen Tonnen werden. Das ist aber noch vergleichsweise marginal, wenn man bedenkt, dass vor den Huthi-Angriffen circa 1,2 Milliarden Tonnen Fracht (auf circa 20.000 Schiffen) den Suezkanal passiert hatten.
Sanktionen beschleunigen die Zusammenarbeit
China hat den hohen Norden 2015 als neue strategische Front definiert, 2018 die Polare Seidenstraße ins Leben gerufen und sich darin als „Near Arctic State“ bezeichnet, obwohl die nördlichste Ausdehnung des Staatsgebiets nur auf dem Breitengrad von Hamburg liegt. Im Papier zur Polar Silk Road wird die Arktis als internationales Gewässer gesehen, in dem auch Nichtanrainerstaaten wie China das Recht haben, Forschung zu betreiben, zu fischen, Unterwasserkabel und Pipelines zu verlegen und, entsprechend dem internationalen Recht, Ressourcen abzubauen. Diese Ansicht widerspricht der russischen Position, deren Arktisstrategie (2020) sich so lesen lässt, dass dieses Areal vorwiegend als russisches Hoheitsgebiet gesehen wird. Und in der Tat ist Russland der Platzhirsch in der Region, und zwar sowohl wirtschaftlich, geopolitisch als auch militärisch. Zwei Drittel des atomaren Zweitschlagarsenals sind dort stationiert. Moskau kontrolliert de facto den Seeweg, verdichtet die Küstensiedlungen und sichert sie zunehmend militärisch ab. Damit China seine Interessen in der Arktis ausbauen und sichern kann, muss es über die bisherigen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Kontakte zu den arktischen Playern wie Finnland, Schweden und Island vor allem mit Russland kooperieren, mit dem es gemeinsame Interessenslagen gibt. Russland sucht nach Transitkunden und Abnehmern für seine Rohstoffe, China nach alternativen Handelswegen und Energiesicherheit. Deswegen investiert Peking massiv in die Erschließung arktischer Gas- und Ölfelder unterhalb des Meeresbodens; 90 Milliarden US-Dollar sind bisher in entsprechende Projekte geflossen. So besitzen die drei staatlichen Ölgesellschaften Chinas bereits Portfolios im hohen Norden in Form von Lizenzen für die Öl- und Gasexploration oder Beteiligungen an einschlägigen russischen Firmen. Verschiedene westliche Investoren haben sich seit dem Ukraine-Überfall aus russischen Energieprojekten zurückgezogen und bieten China so die Chance, den wirtschaftlichen Einfluss gegenüber Russland zu erhöhen.
Als im März 2023 die Sanktionen gegen Russland voll zu greifen begannen, haben China und Russland eine Dachorganisation für den Transport entlang der Nördlichen Seeroute gegründet, darin auch eine gemeinsame Küstenwache. Im Juli 2023 startete eine reguläre chinesische Northern-Sea-Route-Container-Linie zwischen St. Petersburg und Shanghai mit den ersten Rohöltransporten. Torgmoll, ein chinesischer Logistikdienstleister, ist mit seiner Tochter NewNew Shipping Line im Russland-China-Transportgeschäft zunehmend aktiv..
Der Westen und die EU reagieren
Die Arktisstrategien der EU hatten bis vor Kurzem vor allem den Klimawandel und die Nachhaltigkeit im Fokus; wirtschaftliche und sicherheitspolitische Aspekte wurden nicht erwähnt. Erst 2021 wird die Arktis als wichtige Rohstoffquelle beschrieben, die es zu nutzen gilt, um die Abhängigkeit von China zu reduzieren, und es wird angestrebt, geopolitisch präsenter zu sein, zum Beispiel durch ein EU-Büro in Grönlands Hauptstadt Nuuk. Grönland, das in den letzten Jahren aktiv um chinesische Investitionen geworben hatte, ist in seinen aktiven Anwerbungen etwas kürzergetreten, da Dänemark im Verbund mit den USA diese Investitionen blockiert hatte.
Die NATO hat inzwischen die Arktis ebenfalls ins Visier genommen und sieht die Allianz China-Russland zunehmend skeptisch. Alle Mitglieder des Arktischen Rates, dem Zusammenschluss der Arktis-
anrainerstaaten, sind inzwischen NATO-Mitglieder, außer Russland. Das einst wichtige Gremium für Arktisthemen tagt seit der russischen Invasion nicht mehr, sodass eine multilaterale Abstimmung bei den genannten Themen derzeit kaum möglich ist – eine weitere Chance für China, seine Interessen besser umsetzen zu können.