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„Ein Zehntel aller verschifften Waren sitzen irgendwo fest“

Foto: Gary Milano
„Die Wiederherstellung der Resilienz ist die Priorität für das Supply Chain Management“, sagt Roman Stiftner, Präsident des European Shippers‘ Council.
Foto: Gary Milano

Die Lieferketten sind zu krisenanfällig. Daher vollzieht die globale Wirtschaft derzeit einen gravierenden Wandel. Wie dieser genau aussieht und mit welchen Folgen zu rechnen sein wird, erläutert Roman Stiftner, Präsident des European Shippers‘ Council, im exklusiven Interview mit Verkehr.

von: Josef Müller

Verkehr: Herr Stiftner, Sie sind seit Oktober 2021 Präsident des European Shippers’ Council (ESC) und sprechen somit für die verladende Wirtschaft in ganz Europa. Was brennt Europas Verladern derzeit besonders unter den Nägeln?
Roman Stiftner:
Es herrschen turbulente Zeiten in der Logistik. Als das Containerschiff „Ever­given“ den Suezkanal für einige Tage lahmlegte, dachten viele an ein unglückliches „Ein-Mal-Ereignis“. Faktum ist, dass uns dieser Zwischenfall die schon länger bestehende Fragilität der globalen Handelsströme transparent gemacht hat. Die gestörten Lieferketten im Welthandel machen uns immer noch zu schaffen und das wird auch noch einige Zeit disruptiv bleiben. Nicht für alle Staus, welche die internationalen Containerschifffahrt-Routen behindern, ist die Pandemie die einzige Erklärung, wenn auch einige Bereiche dadurch nach wie vor maßgeblich beeinträchtigt sind. Etwa ein Zehntel aller weltweit verschifften Waren sitzen irgendwo fest und behindern die Versorgung mit Gütern und Rohstoffen. Das Ausmaß hat auch bereits die Endkonsumenten erreicht, Wunschprodukte sind nicht lieferbar und die Inflation zieht gehörig an.

Welche politischen Forderungen gibt es seitens des ESC an welche Adressen in Europa?
Stiftner:
Die Pandemie hat gezeigt, dass unsere Supply Chains krisenanfällig sind und wir deshalb gemeinsame Anstrengungen mit der Politik unternehmen müssen, sie resilienter zu gestalten. Für die gesamte Branche sind die Ziele des Fit-for-55-Programms zur Steigerung der Nachhaltigkeit eine große zusätzliche Herausforderung. ESC unterstützt die Europäische Kommission bei Maßnahmen zur Reduktion des Klimawandels, auch mit der Konsequenz, dass Verlader in Zukunft ETS-Zertifikate für den Transport kaufen müssen. Die Politik ist hier aufgerufen, die unterschiedlichen Belastungen der Modalitäten durch das geplante ETS-Regime möglichst gering zu halten und doppelte Verrechnungen zu vermeiden. Die Einnahmen durch die Zertifikate müssen unbedingt in eine moderne Infrastruktur und digitale Innovation investiert werden. Außerdem sehen wir uns mit einer schwierigen Arbeitsmarktsituation konfrontiert. In den nächsten Jahren wird ein großer Teil der Lkw-Fahrer in Pension gehen – es wird daher an autonomen Fahrsystemen kein Weg vorbeiführen. Dafür müssen die rechtlichen und infrastrukturellen Grundlagen geschaffen werden. Aktuell gilt unsere Sorge den geopolitischen Spannungen nicht nur mit Russland, sondern auch in der Taiwan-Frage. Etwa 40 Prozent des weltweiten ­Bedarfs an Halbleitern wird in Taiwan gefertigt, weshalb Lieferstörungen vitale Auswirkungen auf Wertschöpfungsprozesse in Europa haben und auch dem Welthandel schaden würden.

Was sollten Verlader tun, um ihre Lieferketten resilienter zu gestalten?
Stiftner:
Die Wiederherstellung der Resilienz ist in der Tat die Priorität für das Supply Chain Management. Kurzfristig wird die verladende Wirtschaft wohl der Situation mit Krisenmanagement beikommen können. Wir haben auch keinen Einfluss darauf, wenn die chinesische Verwaltung aufgrund ihrer Null-Toleranz-Covid-Politik Containerterminals kurzfristig schließt. Ich bin überzeugt, dass sich die Zielprioritäten zugunsten der Qualität und Regionalität verschieben werden. Dieser Trend wird auch durch die politischen Ziele Nachhaltigkeit und Emissionsneutralität unterstützt. Praktisch bedeutet das, dass es nicht mehr darum gehen wird, eine Ware oder einen Rohstoff möglichst kostengünstig zu beziehen. Die Zuverlässigkeit des Eintreffens der Ware hat im Störungsfall mehr Einfluss auf die Kosten des Gesamtproduktionsprozesses als vergleichbar geringe Einkaufserfolge. Auch ökologisch sind manche Warenströme zu hinterfragen und werden wohl neu beurteilt werden müssen. Das ist auch eine Chance für regionale Anbieter, da höhere Logistikkosten und das Einpreisen der Resilienz diese wieder wettbewerbsfähiger machen. Wir erleben einen schmerzhaften, aber gesellschaftlich erwünschten Wandel.

Ist die Gruppenfreistellungsverordnung (GFVO) für Container-­Reedereien in Pandemie-Zeiten der verladenden Wirtschaft ­zuzumuten?
Stiftner:
Die derzeitige Marktlage in der Seeverkehrsbranche stellt eine große Herausforderung für den Welthandel dar. Insbesondere für Sendungen von geringem Wert ist das derzeitige Preisniveau unerschwinglich. Der Seeverkehrsmarkt wird von einer kleinen Zahl großer Akteure beherrscht. Dies war keine gute Ausgangsbasis für die große Bewährungsprobe, die die Corona-Krise für den Markt darstellte. Der Markt konnte den enormen Anstieg der Verbrauchernachfrage nicht bewältigen und führte zu Gewinnsprüngen bei den Containerschiff-Betreibern. Die derzeitige GFVO-Gesetzgebung ist vielleicht im Moment nicht notwendig, um die Hochsee-Schifffahrt zu schützen, aber es bestehen noch einige Verwerfungen aus der Vor-Coronazeit. Der andere Grund für die GFVO ist die Steigerung der Effizienz auf dem Markt durch die Koordinierung der Kapazitäten. Für uns als Verlader ist es wirklich schwer vorstellbar, wie die Situation ohne eine GFVO ausgesehen hätte. ESC war an einer ­europäischen Studie beteiligt, die keine negative Marktauswirkung nachweisen konnte.

Einzelne Handels- und Indus­triebereiche in Europa haben Probleme bei der Rohstoff­beschaffung, da sie oft nur von einem Lieferanten abhängig sind. Wäre es nicht besser, vom Single Sourcing Abschied zu nehmen und nach Dual Sourcing, Multiple oder Global Sourcing Ausschau zu halten, um das Risiko zu minimieren?
Stiftner:
Das ist einfacher gesagt als getan. Kein verantwortungsbewusstes Unternehmen begibt sich fahrlässig in die Abhängigkeit eines einzelnen Lieferanten. Speziell im Rohstoffsektor, aber nicht nur dort sind jedoch monopolartige Lieferantenstrukturen ein Faktum. Eine aktuelle Studie hat gezeigt, dass bei den strategisch wichtigen Metallen für Hochtechnologie eine vollkommene Abhängigkeit von China besteht. Ich spreche hier von Rohstoffen, ohne die Technologien zur Emissionsreduktion und zu nachhaltiger Energieerzeugung und Mobilität, aber auch Digitalisierung einfach nicht funktionieren. Ein ganz aktuelles Beispiel dafür ist Magnesium, das benötigt wird, um Aluminium- und Stahllegierungen herzustellen. Ohne Magnesium läuft also kein Auto mehr vom Band und es wird auch keine Windkraftanlage mehr errichtet werden können. Europa ist zu 95 Prozent abhängig von China, und China hat die Lieferungen nach Europa strategisch stark eingeschränkt. Die Folgen sind eine Preisexplosion und das Bewusstsein, dass in wichtigen Wertschöpfungsketten, wie unter anderem in der Automobilindustrie, Europa an Autonomie stark eingebüßt hat.

Wäre Europas Wirtschaft gut ­beraten, nach Fernost ausge­lagerte Produktionen wieder auf den alten Kontinent zurück­zuholen?
Stiftner:
Nicht nur Europas Wirtschaft, auch die europäische ­Gesellschaft wäre gut beraten, diesen Weg zu gehen. Es geht dabei nicht um ein „Zurück-in-alte-Zeiten“, sondern um die Absicherung unseres Ziels, ­Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Wir dürfen nicht naiv sein und glauben, dass andere Kulturkreise unsere Regeln akzeptieren und unserem Voranschreiten in der Klimapolitik einfach folgen. Die aktuelle Chipkrise zeigt, wie Technologie durch leichtfertige Politik abwandern kann. Obwohl Europa nach wie vor führend im Design von Chipproduktionsprozessen ist, ging die Produktion verloren. Europa benötigt eine akzentuierte Industriepolitik und den Willen, bestehende Industrien in Europa zu festigen und neue Zweige zu etablieren.  

Was wollen Sie in I­hrer Funktion als ESC-Präsident bewegen?
Stiftner:
Mein Ziel ist es, die Qualität und Resilienz der Lieferketten zum Wohle der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft zu verbessern. Dafür braucht Österreich und Europa mehr qualifizierte Experten. Wir müssen daher in die Aus- und Weiter­bildung unserer Mitarbeiter investieren. Die verladende Wirtschaft ist ein sehr attraktiver ­Arbeitgeber. Wir geben Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen internationale ­Karriereperspektiven und eine ­sichere Beschäftigung. Darüber hinaus ist es mein Ziel, den ­fairen und partnerschaftlichen Austausch mit den Verbänden in Asien, Amerika, Russland als wichtige Handelsregionen auszubauen.

Vielen Dank für das Gespräch!


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